Film & Diskussion: Zwischen Legitimation und Konfrontation – über das Lavieren im Stadtteilkampf

Aktuelle Konflikte in Berlin belegen die Probleme für Projekte, Initiativen und solidarische Nachbarschaften, dem Angriff von Immobilienunternehmen, Eigentümer_innen und deren Vertreter_innen in Behörden und Politik zu begegnen.

Bedrohte Projekte wie Friedel54, Syndikat, Potse oder L34 begehren oft nur kurz auf, bevor sie meistens doch verschwinden. Mieter_innen werden mit wenig Mühe flächendeckend ausgewechselt. Woran das liegt ist unbekannt, Erfahrungswerte mit Herrschaftsstrategien und Spaltungsversuchen wurden in dieser Stadt schon häufig gemacht. Indes der Widerstand nur sporadisch aufflackert um dann im Lavieren der Betroffenen zwischen der Suche nach gesellschaftlicher Legitimation und einer Konfrontation ohne Erfolgsversprechen zu versanden.

Exemplarisch wollen wir den aggressiven Auftritt des Grünen Baustadtrats Florian Schmidt am 8. Oktober in der Rigaer Straße und die Reaktion des Publikums untersuchen. Dafür zeigen wir am

Mittwoch, 24. 10. den Film „Lügen haben lange Beine“ (Ghettovision, 85 Minuten Doku, August 1988 und 2. Teil März 1990),

Ort: Kadterschmiede / Rigaer94
20 Uhr

und wollen im Anschluss eine seit langem praktizierte Strategie der Spaltung und Vereinnahmung in stadtpolitischen Konflikten diskutieren. Die Ähnlichkeiten im medialen Diskurs, der Repression und den Versuchen den Widerstand zu zersetzen zwischen der Situation in Kreuzberg Ende der 80er Jahre und heute im Nordkiez sind so auffällig, das wir die damaligen Erfahrungen nutzen können um diese Angriffe abzuwehren.

Der Film handelt von der Kampagne der TAZ gegen die Autonomen in SO 36, nachdem der Redakteur Gerd Nowakowski aufgrund krasser Hetzartikel im August 1987 verwarnt wurde.

Den Regierenden und aufstrebenden linken Mittelschichtlern steckte noch der Schreck vom 1. Mai in den Knochen, als sie mit der ersten Welle von Aktionen gegen Gentrifizierung – der Kübelaktion gegen das Luxusrestaurant Maxwell in der Oranienstraße – konfrontiert wurden.

So wie kürzlich in der Presse der Fall von Isa aufgeblasen wurde, schrieb auch die TAZ damals:
„Angst vor Kiez-Mafia in SO 36“ , laut Polizei hätten die Gewerbetreibenden Angst Aussagen zu machen. Eine Person wurde namentlich für Gewalt im Kiez gegen Yuppies verantwortlich gemacht und in den Medien angeprangert.

Nachdem dann der SFB in der Sendung Kontraste ein Interview mit einer angeblich verängstigten Anwohnerin sendete, in der diese vermeintliche Hintergründe zu autonomen Aktivisten im Kiez macht, wurden 2 Leute von Bullen abgeholt und es kam zu einer Hetzjagd durch Aktivbürger.
Die Gleichsetzung von Autonomen und Nazis war auch in dieser Zeit schon ein übliches Vorgehen der Medien.

Im März 1990 legte die Sendung Panorama nach, die linke Szene sei gespalten, Autonome würden Mietervereine, Redakteure und Grüne in Kreuzberg bedrohen, die Polizei müsse ohnmächtig zuschauen wie sich hier rechtsfreie Räume bilden.

Das hört sich alles fast genauso an wie die aktuelle Berichterstattung über die Rigaer Straße. Die damaligen „Opfer linker Gewalt“, vermeintlich um das Wohl der Menschen in Kreuzberg besorgt, sind immer noch unterwegs. Der einstige Sprecher der Hausbesetzer, Volker Härtig, ging damals erst als Grüner Abgeordneter auf Stimmenfang (1), wurde dann nebenbei Stadtplaner, Projektentwickler und Chef der Treberhilfe (2), danach Chef des Entwicklungsträgers Bornstedter Feld in Potsdam (3) um heute bei der SPD zu landen (4). Zu den aktuellen Besetzungen in Berlin äussert er sich auch:

„SPD-Politiker Volker Härtig, Vorsitzender des Fachausschusses »Soziale Stadt«, hält die Debatte über die Linie für überbewertet. »Wir haben große mietenpolitische Probleme«, sagt Härtig dem »nd«. Was dabei jedoch keine tragende Rolle spiele, sei der Leerstand, der nur marginal sei. Die Forderung, die Besetzung von Leerstand zu legalisieren, hält er für abwegig. Anstatt sich in dieser »überflüssigen Debatte« zu verlieren, müsse sich in der Wohnungspolitik etwas bewegen, sagt Härtig, der in den Achtzigern selbst an dem von Vogel einberufenen Vermittlerkreis zwischen Hausbesetzerinnen und Hausbesetzern und Senat teilnahm, damals für die Alternative Liste (AL). »Wir brauchen eine Entspannung auf dem Wohnungsmarkt«, sagt Härtig, der heute einer der entscheidenden Köpfe für Wohnungsstrategien aus der SPD ist.“ (5)

In dem Film tritt auch Brigitte Fehrle auf. Ehemals Hausbesetzerin, dann TAZ Redakteurin, hetzt sie im gleichen Stil. Von dort wechselte sie zu Wendezeiten 1990 als verantwortliche Redakteurin zur Berliner Zeitung. Sie stieg dort auf zur leitenden Redakteurin des Ressorts Innenpolitik und später zur stellvertretenden Chefredakteurin. Fehrle wechselte von August 2006 bis August 2007 auf den gleichen Posten bei der Frankfurter Rundschau. Dann übernahm sie für knapp zwei Jahre die Leitung des Hauptstadtkorrespondentenbüros der Wochenzeitung Die Zeit. Seit 1. Juli 2012 war Fehrle alleinige Chefredakteurin der Hauptstadtzeitung der Mediengruppe M. DuMont Schauberg. In einem Hetzartikel 2017 in der Berliner Zeitung über einen Angriff auf das Hotel Orania greift sie nochmal auf den Widerstand in den 80er Jahren zurück. (6)
Auch bei Bizim Kiez hat Fehrle, die ein Haus im Wrangelkiez besitzt, inzwischen einen Fuß in der Tür.

Aus diesen Personen setzten sich dann Anfang der 90er Jahre sogenannte „Mietervereine“ und Sanierungsträger in Kreuzberg zusammen. Alle damaligen „Opfer linker Gewalt“ besitzen heute ganze Häuser in Kreuzberg. So wie heute in der Rigaer fühlten sich früher Bauarbeiter und ein gewisser Michael Rädler bedroht. Der war Vorsitzender im Bauausschuss und sozusagen der Vorgänger von Tom Schreiber und führt in dem Film die Bullen durch den Kiez. (7)

Wie sich die in dieser Zeit befriedete Nachbarschaft zum Beispiel im Wrangel- und Reichekiez weiterentwickelt hat, fasst ein Artikel vom lower class magazine gut zusammen:

Bizim Leaks: Die Manager der Befriedung (8)

Man will Unternehmen, auch große, die Politik und die Mieter „an einen Tisch“ bringen und abfedern. Die Auswirkungen der Gentrifizierung sollen ein bisschen gelindert werden, aber eben auch der Protest soll auf ein braves Maß beschränkt bleiben. Es ist das alte Konzept gelber Gewerkschaften, nur eben nun im stadtpolitischen Bereich.
Eine Passage aus dem Antrag zur „Stärkung der Bürgergesellschaft zur Entwicklung einer gemeinsamen Position zu einem ‚Web-Tech-Standort Friedrichshain-Kreuzberg‘“ sagt es offen: „Um die emotional geführten Debatten im Kiez auf einer sachlichen Ebene aufzugreifen und ein ausgewogenes Bild über die Situation zu erhalten, werden verschiedene ‚Lager‘ in der Zivilgesellschaft und der lokalen Gewerbetreibenden abgebildet.“ Menschen, die von Verdrängung bedroht sind, Initiativen, „die mit der Politik zusammenarbeiten“ und Start-Ups sollen an einen Tisch gebracht werden. Die „Initiativen im Spektrum der Gentrifizierungsgegner“ sollen durch das „FEIN-Projekt“ vernetzt werden, und zwar dergestalt, dass „die inhaltliche Vernetzung (…) durch die FEIN-Projektleitung“ stattfindet, mit dem Ziel, dass die „Kritik substanzielle Tiefe bekommt und sich im Sinne einer produktiven Position zur Entwicklung des Bezirks einbringen lässt.“

Die TAZ schreibt dazu weiter:

Zwar habe der Senat kein Geld, aber der Kreuzberger Baustadtrat Florian Schmidt wolle es zur Not selbst bereitstellen – damit sich nicht „Kiezaktivisten durchsetzen, die sich einem Dialog mit Google und Co verweigern und stattdessen darauf setzen, diese zu vertreiben“.

(9)

Hier handelt es sich um den gleichen Florian Schmidt, der in der Rigaer Straße auftaucht um uns zu verarschen. Alle Protagonisten der Immobilienwirtschaft, Politiker_innen und Stadtteilaktivist_innen, die in dem Film „Lügen haben lange Beine“ auftreten, hatten nur ein Ziel: Den Widerstand befrieden um sich selbst die Taschen zu füllen. Das hat sich bis heute nicht geändert und immer nutzten sie für ihre Karriere die Probleme der Menschen, eine Wohnung zu finden oder zu behalten. Wer mit anderen Motiven unterwegs ist, akzeptiert keine Auftritte von Parteien oder Verwaltung in dieser Nachbarschaft.

Wie das umzusetzen ist, wollen wir mit euch diskutieren. Zunächst müsste jedoch geklärt werden, ob die Parallelen zur damaligen Situation tatsächlich vorhanden sind und ob der stadtteilpolitische Widerstand schon immer von dem Lavieren zwischen Legitimation und Konfrontation geschwächt wurde.

(1) http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-13499842.html

(2) https://www.tagesspiegel.de/berlin/interview-volker-haertig-es-gibt-kampagnen-und-rechtsverstoesse/1855910.html

(3) https://www.pnn.de/potsdam/pnn-interview-wir-muessen-5500-wohnungen-bauen/22691970.html

(4) https://www.spd.berlin/partei/spd-aktiv/fachausschuesse/fa-soziale-stadt/

(5) https://www.neues-deutschland.de/artikel/1089868.hausbesetzungen-in-berlin-appell-fuer-neue-berliner-linie.html

(6) https://www.berliner-zeitung.de/politik/meinung/kommentar-es-gibt-in-kreuzberg-erwuenschte-und-nicht-erwuenschte-bewohner-28726746

(7) https://www.focus.de/politik/deutschland/berlin-bombe-zum-nachtisch_aid_140699.html

(8) http://lowerclassmag.com/2018/04/bizim-leaks-die-manager-der-befriedung/

(9) https://taz.de/%215497632/